Bild von Leah Oswald. Lizenz: CC BY-SA 2.0
Eine Veranstaltung, deren Publikum sich aus realitätsfernen Nerds zusammensetzt, die nur auf ihre Bildschirme starren und sich mit Dingen beschäftigen, die niemand außer ihnen versteht – das ist das Bild, das leider immer noch manchmal bemüht wird, wenn über den Chaos Communication Congress berichtet wird. Dass vor Ort aber neben ausgezeichneten Vorträgen, die sich oft mit spannenden Verflechtungen zwischen Technik und Gesellschaft beschäftigen, eine ganze Reihe innovativer Lösungen zur Veranstaltungsplanung warten, wird meist außer Acht gelassen. Dabei hätten es gerade diese verdient, auch außerhalb der Chaos-Events Beachtung zu finden. Ein paar der besten Kongress-Hacks haben wir hier zusammengestellt.
1. Crowdsourcing mit leeren Flaschen – die Bottle Drop Points
Nicht denkbar ist der Congress ohne Mate und den Hacker-Cocktail Tschunk. Durstige Besucher*innen waren auch während der vier Tage in Leipzig wieder fleißig damit beschäftigt, unzählige Mateflaschen zu leeren. Als praktisch erwiesen sich dabei zahlreiche Flaschensammelpunkte und Mülleimer, die gerne genutzt wurden. Nun ist es bei 17.000 Besucher*innen leider nicht ganz leicht, ständig ein Auge darauf zu haben, wie schnell sich jeder einzelne der Bottle Drop Points oder Mülleimer füllt, weshalb hier ein einfaches, aber ziemlich geniales System ins Spiel kommt: Jeder der Punkte ist mit einer Nummer und einem QR-Code gekennzeichnet. Sobald jemand feststellt, dass kein Platz mehr für die eigene leere Flasche ist, muss die Person nur ihr Smartphone zur Hand nehmen und den Code scannen. Das bewirkt, dass eine Benachrichtigung an den zugeordneten Helfer verschickt wird, der sofort weiß, an welchem der Sammelpunkte er als nächstes vorbeischauen sollte.
Alle Teilnehmenden können auf diese Weise mithelfen, den Congress vor zu viel leeren Flaschen und zu wenig leeren Kästen zu bewahren – der Bottlecalypse, wie die Entwickler*innen das treffend nennen. Die dazu notwendige Software kann lizenzfrei auch anderswo genutzt werden und ist hier verfügbar. Dort ist auch noch einmal im Detail erklärt, wie die technische Seite der Anwendung genau funktioniert.
2. Online-Schichten für freiwillige Helfer – das Engelsystem & c3loc
Um allen anstehenden Aufgaben gewachsen zu sein, ist der Congress jedes Jahr auf die Engel, zahlreiche freiwillige Helfer*innen, angewiesen. Auf dem 35C3 sind gleich mehrere tausend Menschen dem Aufruf der Veranstalter gefolgt, eine oder mehrere Arbeitsschichten zu übernehmen. Die Aufgaben sind extrem vielfältig und beinhalten zum Beispiel die Pressearbeit, das Beantworten von Besucherfragen, die Verpflegung der anderen Engel oder die technische Unterstützung bei Vorträgen oder dem Streaming. In Leipzig war sogar ein ehrenamtliches Ärzteteam vor Ort.
Um den Überblick über alle Engel und die einzelnen Arbeitsschichten nicht zu verlieren, wurde auf dem 35C3 erneut das Engelsystem eingesetzt, das sich bereits bei anderen Events bewährt hat. Dabei handelt es sich um eine Software, die mühelos mit tausenden Engeln und zehntausenden Schichten zurechtkommt und unter anderem ein Nachrichtensystem und eine Funktion zur Anwesenheitsverwaltung beinhaltet. Zum Bewältigen mancher Aufgaben waren einige der Engel auf LKWs und andere Fahrzeuge oder Hubwagen angewiesen. Mittels der Open-Source-Software c3loc ließ sich jederzeit via GPS in Erfahrung bringen, wo sich die Fahrzeuge und die benötigte Technik derzeit befinden.
Einige der Engel waren auch bei Twitter aktiv und teilten dort ihre Eindrücke:
#35C3-Nachtwache-Engel zu sein bedeutet auch, in nem leeren Saal mal ganz genau hinschauen zu können. Das @c3voc benutzt als „Live“-Lampe auf der Kamera nen RasPi mit transparentem Gehäuse und reingedengelter dicker LED. Works for me, würd ich sagen 😉👍 pic.twitter.com/odI5nyIAOX
— Tim Weber (@scy) 28. Dezember 2018
Mal ganz von der großartigen Software abgesehen, hat der Congress offensichtlich keine Probleme damit, immer wieder ausreichend Hilfskräfte zu finden. Das mag zunächst erstaunlich wirken, schließlich gehen die Engel ihrer Tätigkeit ganz ohne Bezahlung nach. Warum melden sich dennoch so viele? Das könnte an der trotz der Größenordnung des Congresses familiär gebliebenen Atmosphäre und dem hierarchielosen Konzept liegen, wie ehemalige Helfer*innen ganz angetan in ihren Erfahrungsberichten schreiben. Weil sich die Engel zu Beginn selbst aussuchen dürfen, welche Aufgaben sie übernehmen wollen, sind alle mit Spaß bei der Sache. Die positive, ungezwungene Stimmung eignet sich laut eines Engel-Erlebnisberichts zudem sehr gut, schnell neue Freunde zu finden. Das klappt sogar bei denen ohne Probleme, die sich in sozialen Situationen manchmal schwertun. Gewinnbringendes Networking findet hier also auch abseits des gewöhnlichen Programmplans statt. Und für besonders fleißige Engel auf dem letzten Congress gab es außerdem einen Voucher für den 35c3-Ticket-Vorverkauf – sicher für viele ein Grund gewesen, sich wieder anzumelden, denn die Tickets sind begehrt.
3. Mehr Wissen für alle – die Videoaufzeichnungen
Um in den Genuss der 35C3-Vorträge zu kommen, war die Reise nach Leipzig nicht unbedingt notwendig. Alle, denen der Weg zu weit, die Zeit zu knapp oder das einmalige Vortragserlebnis zu wenig war, können sich deshalb am umfangreichen Congress-Archiv erfreuen. Die Videos sind in mehr als einer Sprache verfügbar (den Übersetzungs-Engeln sei Dank) und transkribiert – dank der Untertitel-Engel. Als technische Infrastruktur kommt eine Vielzahl eigens entwickelter Softwarelösungen zum Einsatz. Diese sind auf dem Github-Profil des CCC Video Operation Center zu finden.
Kleiner Spaßfakt am Rande: Um herauszufinden, ob alle Videokameras noch funktionieren, hat man sich früher mit Winkekatzen beholfen. Diese wurden auf die Podien unbespielter Bühnen gestellt. Sobald in der Regie ein Stillstand einer der Katzen zu erkennen war, war das ein Zeichen dafür, dass der Stream hängt. Heute fungieren die winkenden Glücksbringer nicht nur als Maskottchen des Video Operation Center, sondern sind längst zum Meme geworden und finden sich überall auf dem Congress, beispielsweise als Ladeanimation im Vortragsarchiv, wieder.
Bild von egm. Lizenz: CC BY-SA 2.0
4. Sicherheit geht vor – die Hilfsangebote
Vorbildlich zeigte sich der 35C3 auch beim Lösen von Konflikten unter den Teilnehmenden, für die gleich mehrere Hilfsangebote zur Verfügung standen. Das war nicht immer so. Noch ein Jahr zuvor sah sich der Congress mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert: Unter den Speakern befanden sich Personen, denen Programmierer*innen übergriffiges Verhalten vorgeworfen hatten. Obwohl die Veranstalter bereits mehrere Monate im Vorfeld Kenntnis davon erlangt hatten, tat sich die offizielle Seite schwer damit, eine Lösung zu finden, wie die Tweets eines der Opfer zeigen. Der Chaos Computer Club räumte damals zwar Fehler ein, reagierte insgesamt aber wenig souverän, unstrukturiert und vor allem zu spät – die Folge waren verunsicherte Teilnehmende, von denen einige der Veranstaltung gleich ganz fernblieben. Ein ziemliches Problem, das auch abseits des Congressgeschehens nicht unbemerkt blieb und durchaus Potenzial hatte, der Veranstaltung langfristig zu schaden.
Ein Jahr später hat sich viel getan: Anstatt das Thema zu ignorieren, hat sich der Chaos Computer Club offensiv damit auseinandergesetzt und durch teils ganz neue Hilfen für Teilnehmer*innen eine Struktur geschaffen, die an Transparenz schwer zu toppen ist. Help.ccc.de fasst sämtliche Angebote übersichtlich zusammen, bietet gleichzeitig eine ganze Reihe von Kontaktmöglichkeiten und beantwortet die Frage, welche der Anlaufstellen in welchem Fall die richtige ist. Erstmals wurde 2018 eine Schiedsstelle eingerichtet, die Unterstützung bei schweren Konflikten bietet. Wenden sich Besucher*innen an diese, sorgt sie dafür, dass alle am Vorfall beteiligte Personen gehört werden und trifft am Ende eine Entscheidung, die von einer Verwarnung bis zum Ausschluss von zukünftigen Veranstaltungen reichende Sanktionen einschließen kann. Als hilfreich erweisen könnte sich dieses Modell auch für andere Veranstaltungen, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben, aber bislang kein einheitliches Vorgehen etabliert haben.
Einen Blick hinter die Kulissen der Infrastruktur des 35C3 gewährt außerdem das Infrastructure Review, ein fester Programmpunkt eines jeden C3. Dort erklären die einzelnen Organisationsteams, welche Lösungen sie geschaffen haben und bewerten, was davon funktioniert hat, und an welchen Stellen Probleme aufgetreten sind. Unterlegt wird das häufig mit Statistiken und Zahlen.
Chaotisch war die Organisation beim 35C3 demzufolge kein bisschen. Ganz im Gegenteil zeigt der Congress eindrucksvoll, dass es möglich ist, reibungslose Abläufe zu schaffen, bei denen sich Teilnehmende aktiv einbringen, gegenseitige Unterstützung leisten und die Veranstaltung so zu einem einzigartigen Erlebnis machen. Dass es der Congress vermag, sich dennoch oder gerade deshalb seinen ursprünglich anarchischen Charakter zu erhalten, ist der wohl beste vorstellbare Nebeneffekt.